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Piazza virtuale

"Die Piazza virtuale präsentierte sich dem Zuschauer als computergesteuerte Fernsehoberfläche, auf der Schrift, Bild, Video, Computeranimation, Ton und Musik gleichzeitig erscheinen konnten. Das Oberflächendesign lenkte die Aufmerksamkeit primär auf den Fluß der Kommunikation. Zur Teilnahme benötigte man nur ein Telefon und den Fernseher: Von zuhause aus konnte man sich einfach per Telefon einwählen und mit Mehrfrequenzwahlverfahren oder mittels einer Fernabfrage für Anrufbeantworter im "Virtuellen Atelier" digitales Malen auf dem Fernsehbildschirm ausprobieren, im "Interaktiven Orchester" zusammen den Marsch blasen, mit Hilfe einer ferngesteuerten Robotkamera genannt "Muskart" durch das Ponton-Studio spazieren oder an interaktiven Spielen wie "Sarah & Daniel" teilnehmen. Auch mit dem Bildtelefon (Standbild oder ISDN) konnte man sich problemlos auf der Piazza umschauen. Im "Coffeehouse" konnten Diskussionen simultan zwischen Telefon- Modem- und Faxbenutzern geführt werden, und per
Fax oder Modem konnten Texte direkt auf den Marktplatz geschickt werden. "

--Ponton 1994

"Hallo Helga, siehst du mich ?
Ja !
Ich bins !
Das ist ja toll !"

-- Erster überlieferter Ferndialog aus zwei Bildtelefonzellen, ca. 1930 in Berlin

"VanGoghTV, welcome to Piazza virtuale."
-- Automatische Telefonansage der Piazza virtuale bei erfolgreicher Verbindung mit dem System.

Piazza virtuale entstand zwischen Dezember 1991 und Juni 1992 in den Räumen des Ponton European Media Art Lab in Hamburg und wurde während der Dokumenta 9 aus einem Container-Sendestudio in Kassel Europaweit auf dem Sender 3Sat und einer freien Satellitenfrequenz der European Space Agency über den inzwischen verendeten Olympus Satelliten ausgestrahlt. Im Februar 1993 gab es erneut eine 2 tägige Ausstrahlung auf 3Sat, bevor Piazza virtuale als Teil der japanischen SIM-TV Sendung auf NHK zum letzten Mal im August 1993 in Tokio auf Sendung ging. Piazza virtuale war eine interaktive Fernsehsendung, in der ein vollautomatischer Sendeapparat von Zuschauern gesteuert und zur Unterhaltung miteinander genutzt werden konnte. Piazza virtuale hat viele Kontroverse Diskussionen um interaktives Fernsehen ausgelöst und einige Telefon-Rekorde gebrochen. Sowohl in Kassel als auch in Tokio brachten mehrere Hundertausend Anrufer pro Sendung die lokalen Telefon-Netze zum Zusammenbruch, was unter genauerer Betrachtung der Funktionsweise des Telefonnetzes kein Wunder ist, da die Vermittlungsstellen von einer maximalen Auslastung das Netzes von ca. 5-8 % ausgehen, und dementsprechend ausgerüstet sind. Wenn 100000 Menschen eine Telefonnummer gleichzeitig anrufen, kommt es zum Stau, und im Zuge dessen treten Fehler auf, die man eben erst unter Extrembedingungen feststellt.

Meine Mitarbeit an Piazza virtuale konzentrierte sich in erster Linie auf die Programmierung und die grafische Gestaltung der einzelnen Sendeteile. Für uns, Van Gogh TV bestand damals aus ca. 20 Leuten, gab es damals keinerlei Gestaltungs-Richtlinien oder Konventionen, interaktives Fernsehen gab es nicht. Die Anforderungen an Funktion und Aussehen der Sendungen ergaben sich aus einem evolutionären Gestaltungsprozess, der anfänglich aus unserern Vorstellungen und dem technisch Machbaren, später dann aus den Erfahrungen der ersten Sendungen entstand.

Piazza virtuale öffnete einen Kommunikations-Raum im Medium Fernsehen. Jeder der die Fernsehsendung empfing und ein Telefon besass konnte diesen Raum nutzen, um sich dort mit anderen Menschen zu treffen und zu unterhalten, oder, wie oben im Ponton-Zitat erwähnt, eine der zahlreichen Steuerfunktionen per Telefontastatur auszuprobieren. Es ging dabei nicht um irgendeinen qualitativen Anspruch in der Unterhaltung, sondern einzig und allein um das Bereitstellen der Möglichkeit dazu. Wie und wozu diese Möglichkeit genutzt wurde, sollte so offen wie möglich sein. Der Grund für den quantitativen Erfolg von Piazza virtuale (mehrere Hundertausend Anrufversuche pro Stunde) liegt sicherlich in der Plazierung dieses Experiments als Fernsehsendung. Der Hochglanzoberfläche der monologen TV-Kulissen wurde eine spontan reaktive Kommunikations-Membran entgegengestellt, die sich der am weitesten vernetzten Technologien bediente, dem Fernseher und dem Telefon. Gleichzeitig antstand aus der Interaktion zwischen den Zuschauern und dem Ponton-Team eine 100 Tage dauernde Evolution des Senders. Die aus den aktuellen Sendungen gewonnenen Erkenntnisse wurden laufend in die bestehenden Teile eingearbeitet, und es wurden neue Funktionen auszuprobiert.

Weltmodell

Piazza virtuale war ein offenes Sendestudio, das sowohl telematisch als auch physikalisch erreichbar war und erreicht wurde. Piazza virtuale war ein Veranstaltungs-Ort im Telefon- und Fernsehnetz Europas. Piazza virtuale war durch die grosse Anzahl der Gestalter und Teilnehmer in einem ständigen Evolutionsprozess, und ebenso bunt wie vielseitig. Piazza virtuale passierte auf der Bildschirm-Oberfläche des Fernsehers.

Zugänge

1. Übertragung der Sprache per Telefon : Anrufe wurden von einem PC automatisch angenommen. Der Anrufer bekam eine kurze vordigitalisierte Willkommensnachricht, danach wurde seine Stimme direkt als Audio-Kanal in die laufende Sendung geschaltet.

2. Übertragung von Steuercodes (Touchtone) per Telefon : Die sogenannten Mehrfrequenzwahl-Töne wurden von einem PC dekodiert, und in Steuersignale für Grafik-, Video- und Toncomputer umgesetzt. Auf diesen Leitungen konnte gleichzeitig gesprochen werden.

3. Übertragung von Text-Unterhaltung per Modem : Die Modemanrufe wurden ebenfalls automatisch angenommen. Der Text wurde auf der Fernseh-Oberfläche Zeile für Zeile abgebildet.

4. Versenden von Faxen : Die Faxe wurden auf einer Next-Station empfangen, und in ein Videosignal umgesetzt. Gleichzeitig sendete die Next ein Steuersignal, das das empfangene Fax auf Sendung schaltete.

5. Übertragung von Videobild und Ton aus einem Entrypoint : Die Entrypoints waren Stahlkästen mit integrierter Videokamera und Mikrofon. Sie waren in unmittelbarer Nähe des Sendestudios aufgebaut. Passanten konnten auf dem eingebauten Fernseher die Sendung und die Gespräche verfolgen, und sich daran beteiligen.

Piazza virtuale, Interaktions Diagramm

Dieses Diagramm soll ein Grundproblem der Piazza virtuale verdeutlichen. Nur eine unverhältnissmässig kleine Gruppe von Zuschauern hat die Möglichkeit zur Interaktion und zur Kommunikation.

Die folgende Tabelle gibt anhand einiger repräsentativer Beispielsendungen einen Überblick über die Funktionalitäten die per Telefon gesteuert werden konnten und über die verfügbaren Kommunikationsmedien:

Das Sendebild

Die Bildschirmoberflächen der Piazza setzten sich grundsätzlich aus einer getrennten Abbildung der verschiedenen Funktionen und Kommunikationsmedien zusammen. Der Modemtext bildete sich Zeilenweise meistens im unteren Bereich des Bildschirms ab, Fax und Videoquellen in der oberen Hälfte. Sofern eine per Touchtone steuerbare Funktion vorhanden war, wurde das Bild einer Telefontastatur gezeigt, die die Tastendrücke des Benutzers anzeigte.

Die per Telefon verbundenen Zuschauer bildeten sich durch animierte Telefone ab, die im Rythmus der Stimmhöhe blinkten. Wie bereits erwähnt haben wir mit allen möglichen Anordnungen und Symbolen experimentiert, und so änderte sich die Bildschirmaufteilung recht häufig.

Abbildung des Teilnehmers auf der Piazza

Die Besucher der Piazza virtuale bildeten sich auf zweierlei Art und Weise ab. Der Anrufer, der das Telefon als Verbindung zur Sendung benutzte, bekam je nach Sendeblock verschiedene grafische Formen zugewiesen, die auf den erfolgreichen CONNECT mit einem Wechsel der Farbe oder Form reagierte. Die Modem-Benutzer waren in der Lage, sich für die Dauer ihrer Verbindung mit >.n <name> einen eigenen Namen zu geben. Jeder Modem-Benutzer bekam zusätzlich eine eigene Text-Farbe zugewiesen.

Die Robotkamera

Die Robotkamera "Muskart" soll noch einmal getrennt betrachtet werden. Muskart hing an einer ca. 20 Meter langen Schiene im Piazza virtuale Sendestudio, und konnte über die volle Länge hinweg fahren. An einem Schwenk- und Drehbaren Arm ist eine sehr kleine Schwarz-Weiss Videokamera befestigt. Alle Bewegungen der Kamera konnten per Telefontastatur kontrolliert werden. Muskart war, obwohl nur für jeweils einen Zuschauer zur Zeit benutzbar, einer der beliebtesten Sendeblöcke der Piazza virtuale. Der Zuschauer der die Kamera steuert, erweitert seine Sinne um die tonale und visuelle Wahrnehmung eines Ortes, an dem er nicht ist. Er verkörpert sich durch die Maschine, die er durch das Sendestudio fahren kann, er hört, er kann mit den Menschen im Fernseher sprechen. So betrachtet ist Muskart der analoge Solo-Vorfahre des Menschenabbildes in dreidimensionalen Kommunikationsräumen. Der Fernseher wird ersetzt durch den Computermonitor, die Telefontastatur durch den Joystick oder die Maus oder das Keyboard. Die Robotkamera wird die Telepräsenz des Zuschauers im Sendestudio, dieses Studio ein Metaversum und die Leute bleiben die Leute. Jeder steuert seine Robotkamera durch einen Raum voller Robotkameras und hat sein eigenes Fernsehprogramm. Der Mensch ist im Bilde, das Panorama des Drahtrahmengartens ist erfüllt mit Leben und dem mechanischen Klicken der Robotgelenke.

Das Steuer-Protokoll

Serielles Protokoll auf19200 Baud, Syntax : <steuercode><portnummer><aktion><text ">

Der Zentrale Steuerrechner ("Telefon Interface") mit 8 seriellen Ports, 8 Audio - Telefonleitungen mit Touchtone Erkennung, sowie 8 Modemports, setzte Touchtone, Tonhöhen und Texteingang in das serielle Protokoll um, und publizierte es auf dem seriellen Netzwerk des Studios. Publizieren oder Broadcast bedeutet in diesem Zusammenhang, das der Rechner das Signal ziellos auf das Netz sendet. Auf jedem der angeschlossenen Rechner lief ein Interpreter des Protokolls, der sich die für sich relevanten Daten raussuchte und umsetzte. Es wurden teilweise bis zu 20 Rechner über das "Telefon Interface" angesteuert. Um Musik, Grafik und Video zu synchronisieren, kommunizierten die Rechner über den zentralen Steuercomputer, der nach abgeschlossener Ladezeit per Kommando den Sendeblock startete oder beendete. Als Lebenszeichen sendete das Telefon-Interface im Sekundentakt die Uhrzeit.

Generierung der Sendesignale

Die einzelnen Bildelemente wurden durch 4 seriell steuerbare Kreuzschienen (Switch-Matrix) und 2 Videomischern zu einem Videosignal zusammengefügt. Es wurden maximal 5 zum Teil transparente Bildebenen und 6 Audioquellen als Simultan-Layer gesendet. Das VideoSignal ging über einen VBN-Anschluss nach Mainz und per Mikrowellen-Schüssel auf den Olympus-Satelliten.

Beobachtungen zu Piazza virtuale

Die Euphorie der Fernsehzuschauer übertraf damals, vorsichtig ausgedrückt, alle Erwartungen. Von der ersten bis zur letzten Sendung waren immer alle Leitungen besetzt. Die Möglichkeit ins Fernsehen zu kommen übt an sich schon aufgrund der Popularität dieses Mediums offensichtlich eine grosse Faszination auf viele Menschen aus. Bei Piazza virtuale wurde relativ schnell klar, dass eine grosse Anzahl der Anrufer von reiner Neugier getrieben, die als Grafik eingeblendeten Telefonnummern ohne eine bestimmte Absicht anrief.

Postulat Eins :: Jede Telefonnummer, die im Fernsehen erscheint, wird angerufen !

Mehrere tausend Menschen haben nachgewiesenermassen Nonstop versucht, die 25 veröffentlichten Telefonnummern (20 Telefonleitungen unter 5 veröffentlichten Telefonnummern) während der Sendezeiten und danach anzurufen. Es ist leicht vorstellbar, dass eine grosse Anzahl von Anrufern auch über die Projektdauer von 100 Tagen hinweg nicht ein einziges Mal auf die Piazza kam. Gut 60 Prozent aller Anrufer, die zum ersten Mal eine freie Leitung auf die Piazza bekamen, sagten Hallo, und legten erschrocken wieder auf, als sie ihre Stimme aus dem Lautsprecher ihres Fernsehers vernahmen.

Nach gut der Hälfte der Projektdauer, also nach ungefähr 50 Tagen, liess dieses Verhalten allerdings spürbar nach. Eine bestimmte Lässigkeit im Umgang mit dem System war dann auch bei Erst-Anrufern zu spüren.

Die Funktionsweisen der Sendungen waren nach einiger Zeit offenbar verstanden worden, und es bildete sich eine Gruppe von "Piazzeros", die wussten was vor sich ging, und tatsächlich versuchten, mit ihrer Zeit auf Sendung etwas anzufangen. Trotzdem, und das bestätigen sowohl Pontons weitere Projekte als auch die zahlreichen MOOs und MUDs und Chat-Systeme, ein sehr grosser Anteil der Netzwerk-Kommunikation ist Smalltalk, Geplapper, Chat eben. Warum sollte es im Netz auch anders sein als sonst ?

Postulat Zwei :: Der Einsatz komplexerer Mittel generiert nicht automatisch komplexere Unterhaltung !

Postulat Drei :: Hallo !

Piazza virtuale sah sich dieser Kritik natürlich stärker als andere Systeme aussgesetzt, da sich der Chat im öffentlichen Raum ausbreitete. Das Fernsehen in seinem ständigen Bemühen um lückenlose Perfektion und konstante Reizgenerierung sah sich mit einer Unmenge echter Stilbrüche gleichzeitig konfrontiert. Das vollautomatische Sendestudio stellt die Notwendigkeit von Moderation und Redaktion in Frage. Die Transparenz die Produktionsmittel entmystifiziert den Produktionsapparat TV. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen kommt auch noch JEDER zu Wort, der eine freie Leitung hat. Das Fernsehen, (Betrachtet man das Fernsehen jetzt einmal als Einheitliche Masse, es mag von Sender zu Sender Unterschiede geben) lässt zwar ab und zu den Zuschauer zu Wort kommen, doch bevor das geschieht durchläuft der arme Mensch eine psychologisch bemerkenswert ausgeklügelte Prozedur der Vorselektion. Um so aussergewöhnlicher erscheint die Tatsache, das eine Konstante Anzahl Zuschauer ( zwischen 30 und 50 Tausend pro Sendung) 100 Tage lang zusah, auch ohne mitmachen zu können.

Zum besseren Verständniss des Ganzen ist es wichtig noch einmal zu betonen, das 1992 die Auseinandersetzung mit Online-Kommunikation nicht halb so intensiv in der Öffentlichkeit und in den Medien erläutert und diskutiert wurde wie Heute. Die Konfrontation des Fernsehzuschauers mit einer Metamorphose seines Fernsehers in einen Mehrweg-Kommunikations Apparat bei gleichzeitiger Benutzung seines Telefons war zwar naheliegend, aber sicherlich ungewohnt.

Einmal auf Sendung fand sich der Telefon-Besucher jedoch zunächst in einer komplizierten Position wieder. Die animierte Grafik, die den erfolgreichen Anruf visualisieren sollte, wurde nur selten als "Das bin jetzt ich !" dekodiert. Zusätzlich blieb die Telefonleitung still. Die eigene sowie die Stimmen der anderen kam ausschliesslich über den Fernseher zurück, was einen Bruch mit der gewohnten Funktionsweise des Telefons darstellt, und anfänglich zu einiger Irritation geführt haben mag. Erst durch das Gespräch mit anderen Zuschauern war es möglich, diese anfängliche Desorientierung aufzuheben, da die Stimmen, die Tonale Rückmeldung aus dem Fernseher kam.

Lediglich in Japan wurde dieses Konzept vom Sender NHK unterlaufen. Dort wurde die ganze Sendung Live mitkommentiert, um das Risiko der Irritation von Vornherein auszuschliessen.

Hier ein Beispiel für einen typischen Piazza virtuale Initialdialog ( Do 16. Juli 1992, 11.35):

( A ist bereits Online, B kommt neu hinzu, A erkennt das animierte Telefon, das einen neuen Gesprächsteilnehmer anzeigt)

A : "Hallo, da ist ein Neuer. Wer bist denn du ?"
B : "Ich ?"
A : " Ja, du !"
B : "Ach so, ich bin das !!!"

Auch in Text-Basierten Chat-Systemen wird die Unsicherheit der Anfänger durch die wohlwollende Begleitung erfahrener Benutzer kompensiert (Siehe auch "Mudding ....LambdaMOO"). Der grosse Unterschied zur Piazza virtuale ist jedoch, das der Zuschauer auf der Piazza keine Identität bekam, die länger als die Zeit seiner Verbindung mit dem System währte. Er wurde zum blinkenden Telefon, zur Audio-LED oder bloss zur Stimme. Lediglich die Modem Benutzer konnten sich einen Namen geben. So gab es auch selten genug die Kombination aus Piazza-Veterean und Neuling. In 90 Prozent der Fälle trafen Neulinge aufeinander.

Learning Piazza by doing Piazza ging nicht, da, wie oben bereits erwähnt, kaum jemand zweimal eine freie Leitung bekam. Piazza virtuale bot dem Zuschauer die Möglichkeit, sich in einer zufällig entstandenen Gruppe öffentlich im Rahmen seiner Möglichkeiten und in einer begrenzten Zeit zu unterhalten. Das Fernsehen als Technologie, als zentralistisch über ein sehr grosses Gebiet ausgestrahlte Information, kann auch durch die Erweiterung um einen Rückkanal nicht befriedigend als Treffpunkt genutzt werden. Erstens behindert die Flüchtigkeit der Gespräche das Entstehen einer Gemeinschaft und zweitens wird das WANN des Treffens zu sehr durch den Event-Charakter einer Fernsehsendung, also ihre zeitlich begrenzte Erscheinung, bestimmt. Die echte Piazza, der Marktplatz als Zentrum der Dorfgemeinschaft, steht den Menschen als Treffpunkt immer zur Verfügung.

Grossartig war in jedem Fall der Austausch zwischen den Zuschauern und dem Team. Die Arbeits- und Lebenssituation war über 100 Tage bestimmt von einem ständigen Kontakt. Wenn die Leute nicht auf Sendung kamen, dann kamen sie nach Kassel. Zur Dokumenta wollten sie ja sowieso. Als Kontaktmedium hat Piazza virtuale voll funktioniert, und im Gegensatz zum nimmermüden ermüdenden Vorwurf der Förderung der menschlichen Isolation durch Perfektionierung des Mediums, generierte Piazza virtuale einen extrem regen Verkehr einiger Zuschauer von Zuhause nach Kassel und zurück. Der Ort im Netz wäre nur halb so schön ohne den realen Ort in Kassel gewesen.

Interaktives Fernsehen, die Spitze des Eisbergs

Piazza virtuale war das letzte der hier erwähnten Projekte von Ponton, dass eine Fernsehsendung als Hauptereigniss benötigte, und gleichzeitig bis heute das letzte Projekt, das ich kenne, dass den Namen Interaktives Fernsehen verdient hätte. Die bereits beschriebenen Erfahrungen aus Piazza virtuale führten zu der Erkenntniss, dass die Zielvorstellung eines kulturell und künstlerisch interessanten Kommunikationsraumes dringend eine ständige Erreichbarkeit des Systems, eine grössere Benutzergruppe sowie eine Bewahrung der individuellen Daten der Benutzer voraussetzt. Nur so kann etwas wachsen. Es ist nicht klar, was wachsen wird, und es ist auch nicht wichtig das zu wissen. Wichtig ist, das sich der Besucher eines Systems anhand einer persönlichen Ausgestaltung seiner virtuellen Umgebung zurechtfinden kann. Ausserdem war es relativ klar, dass Gespräche sehr gut in intimeren Zirkeln als in einer Fernsehsendung stattfinden können. Den Fernseher als Abbildungsfläche für eine Gesprächskultur zu nutzen, erscheint nach wie vor sinnvoll. Nur sollte der Fernseher keine entscheidende Rolle spielen, also nicht das Kommunikationsmedium sondern stattdessen der Transportweg für Informationen in den öffentlichen Raum sein. Wenn man sich nun also das Publikum als Pyramide vorstellt, wobei die Spitze der Fernseher ist, dann ist die Basis der Pyramide die Anzahl der potentiellen Besucher. Es fällt auf, dass der grösste Teil der Leute NICHT an den interaktiven Teilen der Fernsehsendung teilhaben, sondern bestenfalls den glücklich Verbundenen zusehen kann.

Diese Erkenntnis führte bei Ponton zur Entwicklung der ServiceArea, die sich in der Anfangsphase der Fernsehsendungen bediente, um das Projekt im Kontext einer breiteren Öffentlichkeit bekanntzumachen, und dann die Auseinandersetzung mit dem System zu forcieren. Service Area positioniert sich im Eisbergmodell zwischen Spitze und Basis, und fängt dort den Zustrom dadurch auf, dass sie ein grosse Menge an Leuten UNTEREINANDER verbindet, ohne das diese dazu die Fernsehsendung bräuchten.

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